Nach dem Ende
Chantal Mouffe, Ernesto Laclau und das postmarxistische Denken


Von Siegfried Kaltenecker



"Nur wenige Leute würden heutzutage noch bezweifeln, daß wir im Epizentrum eines großen historischen Umbruchs leben", schreibt Ernesto Laclau in dem von ihm herausgegebenen Buch "The Making of Political Identities". Nichtsdestoweniger, so der in Argentinien geborene und heute an der University of Essex lehrende Politikwissenschaftler weiter, sei es schwierig, die vielschichtige Bedeutung dieser historischen Veränderungen genau zu benennen. Zweifellos haben sie mit der globalen politisch-ökonomischen Umstrukturierung seit 1945 zu tun, vom westlichen Wirtschaftswunder über die Entwicklung eines eigenen wohlfahrtsstaatlichen Modells bis hin zum Eintritt in die neue Epoche eines multinationalen Spät-oder auch Konsumkapitalismus, der die traditionelle gesellschaftliche Ordnung von Arbeit und Freizeit, Öffentlichkeit und Privatheit oder Individualität und Kollektivität in einschneidender Weise verändert hat. Ebenso zweifellos haben diese Veränderungen jedoch auch - wie die französisch-britische Philosophin Chantal Mouffe ihrem intellektuellen Weggefährten beifügt - mit jener umfassenden Krise des Universellen zu tun, wie sie das postmoderne Leben nach dem Ende des Kalten Krieges, dem Zusammenbruch des realexistierenden Sozialismus und dem neuen Auftauchen nationalistischer und fundamentalistischer Bewegungen prägen. Wie aber wirken sich diese globale politisch-ökonomische Umstrukturierung und die mit ihr einhergehende Krise des Universellen auf die konkrete Um-Gestaltung unserer sozialen Realität aus? Wie verändern sie unsere alltäglichen Entwürfe von Subjektivität und Identität? Und welche gesellschaftliche Neu-Bedeutungen verleihen sie Begriffen wie Ideologie, Diskurs oder Repräsentation?

Paradigmenwechsel

Das sind einige der zentralen Fragen jenes seit den frühen 80er Jahren verfolgten Theorie-Projekts, im Laufe dessen Ernesto Laclau und Chantal Mouffe eine umfassende "Reformulierung des Marxismus und der sozialistischen Strategie" vorangetrieben haben. Eine Reformulierung, die zumindest in dreifacher Weise mit dem klassischen Feld des Marxismus bricht: 1.) Durch die Bestimmung neuer sozialer Objekte, die sich nicht mehr länger allein über die Rolle der Ökonomie definieren; 2.) Durch die Konzentration auf die historisch neuartigen Beziehungen zwischen diesen Objekten und den Versuch, ihre Subjekte nicht bloß als potentielle AgentInnen des antikapitalistischen Kampfes zu betrachten; und 3.) Durch den Entwurf neuer Formen der Politik, die den veränderten individual- wie gesellschaftshistorischen Kontexten des postmodernen Zeitalters gerecht zu werden versuchen.

Ausgangspunkt dieses umfassenden Paradigmenwechsels politischer Theorie und Praxis ist eine fundamentale Kritik an den traditionellen marxistischen Gesellschaftskonzeptionen. In der eingehenden Auseinandersetzung mit ihren zentralen Strömungen (der marxistischen Orthodoxie, dem Revisionismus, dem revolutioären Syndikalismus) und deren bekanntesten DenkerInnen (Rosa Luxemburg, Karl Kautsky, Eduard Bernstein, Georges Sorel) weisen Laclau/Mouffe vor allem drei für den klassischen Marxismus grundlegende Vorstellungen zurück. 1.) Den linken "Objektivismus", der von den materiellen Lebensverhältnissen unmittelbar auf die sozialen Praxen, die Gewohnheiten, das Wissen und Handeln schließt; 2.) Den "Klassenreduktionismus", der ein einheitliches in sich geschlossenes Bewußtsein und eine dementsprechene kollektive Existenzweise voraussetzt; und 3.) Den "Ökonomismus", der die soziale Entwicklung nur als Effekt einer feststehenden wirtschaftspolitischen Basis begreift. Es ist diese fundamentale Kritik an den klassischen marxistischen Vor- und Verstellungen, anhand derer Laclau/Mouffe ihr neues, antiessentialistisches und antitotalitäres Analysemodell entwickeln. Ein Modell, das sowohl jede letztendliche Begründung des Sozialen (als Produkt ökonomischer Determinierung, als Ausdruck stabiler Klassenverhältnisse oder als Effekt von falschem Bewußtsein) als auch jede totale Geschlossenheit des politischen Feldes (als durch und durch kapitalistisch, patriarchal, rassistisch etc.) vehement zurückweist. Stattdessen geht dieses Modell von der untrennbaren Verknüpfung zwischen materiellen Produktions- und Lebensbedingungen und symbolischen Prozessen aus, die nicht nur eine bestimmte Form von Ideologie prägt, sondern die politisch-ökonomischen Verhältnisse der gesamten Gesellschaft. Politik ist eben, so Laclau/Mouffe, "in einem entscheidenden Ausmaß von kollektiven Bildern, Symbolen und Diskursen bestimmt" und all diese "Elemente gesellschaftlichen Sinns" sind ihrerseits wiederum "eine Form von Politik."

Krise und Reformierung

Die dementsprechende diskurstheoretische Neufundierung, die Laclau/Mouffes Projekt bestimmt, ist freilich alles andere als eine entpolitisierende "Postmodernisierung" klassischer Marxismen. Vielmehr beruht diese Neufundierung auf der grundlegenden gesellschaftstheoretischen Einsicht, "daß in dem mit der gegenwärtigen Krisenphase verbundenen Prozeß der Auflösung und Neuformierung tradierter Klassenmilieus Lebensstilen als symbolischen Distinktionsstrategien eine zentrale Rolle für die Ausbildung kollektiver Identitäten zukommt." In diesem Sinne ist die Laclau/Mouffes Werk bestimmende Verknüpfung marxistischer und poststrukturalistischer bzw. psychoanalytischer Analysemodelle eben nicht der Abgesang linker Gesellschaftsheorien, sondern im Gegenteil deren kritische Vergegenwärtigung. Gerade in dem der Verlust der in sich geschlossenen "wahren Lehre" ernstgenommen wird, eröffnet Laclau/Mouffes Auseinandersetzung mit der umfassende Krise des Marxismus die Möglichkeit eines Neuentwurfs, der die neuen theoretischen Anforderungen mit den zahlreichen Ausblendungen und Defiziten der alten Analysemodelle kurzschließt. Es geht, mit anderen Worten, um nichts anderes als die Verlebendigung und Dynamisierung einer marxistischen Theorie, die der spätkapitalistischen Gesellschaft gerecht wird.

Wie aber läßt sich diese Theorie verlebendigen? Wie lassen sich die traditionellen marxistischen Gesellschaftsmodelle dynamisieren? Und wie sind diese im Angesicht der von kollektiven Bildern, Symbolen und Diskursen dominierten Form postmoderner Politik zu aktualisieren? Es ist wohl vor allem die im Rückgriff auf Antonio Gramsci vorangetriebene Überwindung der "metaphysischen Illusionen" des Klassenbewußtseins und des Ökonomismus, die Antworten auf diese Fragen zu geben vermag. Überwunden werden diese Illusionen dadurch, daß "die Gesellschaft" nicht mehr als ein durch staats-kapitalistische Gesetze vereinheitlichter Block betrachtet wird, sondern - wie Laclau/Mouffe in ihrem programmatischen Hauptwerk "Hegemony and Socialist Strategy" darlegen - als ein "Ensemble differentieller Teilprozesse", die sich weder zu einer objektiven noch zu einer totalen Ordnung zusammenfügen. Unter antiessentialistischer, jede feste "Positivität" des Sozialen bestreitender Perspektive geht es also - wie Chantal Mouffe bereits in ihrem frühen Aufsatz "Hegemony and New Political Subjects" formuliert - um "eine Konzeption der Gesellschaft als ein komplexes Ganzes heterogener gesellschaftlicher Verhältnisse, die ihre eigene Dynamik haben und nicht alle auf die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse oder auf ihre ideologischen und politischen Reproduktionsbedingungen reduziert werden können." Für Mouffe und Laclau hat die Gesellschaft keine "Essenz" und die sie bestimmenden Verhältnisse sind nicht als einheitlich und universell, sondern nur als vielfältige und diskontinuierliche zu denken. Die Ökonomie stellt dabei so wenig eine in sich geschlossene Basis der gesellschaftlichen Verhältnisse dar wie die Politik oder die Kultur mysteriös verborgene Kräfte sind, die die Subjekte gleichsam über ihre Köpfe hinweg definiert. "Und wenn" - wie Ernesto Laclau in "Die Politik als Konstruktion des Undenkbaren" konsequent weiterargumentiert - "die Elemente des Überbaus ebenfalls keine paradigmatische und unauflösliche Einheit konstituieren, sondern im Gegenteil aufgrund laufender diskursiver Unterbrechungen differenziert und reartikuliert werden können, hängt der Typ der Einheit, der in der Gesellschaftsform existiert, nicht von den außerdiskursiven, essentiellen Artikulationen ab, sondern von konkreten diskursiven Praxen."

Diskursive Praxen

Es ist diese Konzentration auf die konkreten diskursiven Praxen, der einen neuen Blick auf die "Unmöglichkeit von Gesellschaft" (so der Titel eines weiteren Aufsatzes von Laclau) ermöglicht und damit zugleich ein neues Verständnis der für ihre Analyse zentralen Begriffe: Ideologie, Repräsentation, Identität, Differenz. So wird der Begriff der Ideologie bei Laclau/Mouffe weder rein deskriptiv, als statischer, von seinen besonderen soziohistorischen Kontexten getrennter -ismus gedacht (als Konservativismus etwa, als Liberalismus oder auch als Kommunismus) noch als "sozialer Zement", als normativer Leim oder als Illusion (im Sinne der beliebten Camera Obscura-These). Ideologie ist kein umgekehrtes und entstelltes Bild dessen, was "wirklich" ist. Vielmehr hat sie eine konstitutive Funktion für die Herstellung von Realität, sei es nun eine individuelle oder eine kollektive. Ideologie ist nicht ein fahles Bild einer vorgegebenen, außerhalb des Subjekts existierenden sozialen Welt, sondern ein kreatives und produktives Element, das diese soziale Welt in gewissem Sinne überhaupt erst hervorbringt. "Die Ideologie", wußte schon Althusser, "stellt das imaginäre Verhältnis der Individuen zu ihren wirklichen Lebensbedingungen dar." Untrennbar mit den Ebenen von Selbst-Darstellung und Welt-Bedeutung verbunden, befindet sich diese Ideologie dementsprechend niemals außerhalb der alltäglichen gesellschaftlichen Repräsentationen, sondern immer schon in ihnen. Anders formuliert: Ideologie ist das Produkt und der Prozeß einer Repräsentation, in der imaginäre Subjektivität und symbolischer Realitätsbezug unauflöslich ineinander verwoben sind.

Dieses neue Verständnis des Ideologischen in und als Repräsentation zieht zumindest zwei Konsequenzen für die kritische Reformulierung der marxistischen Gesellschaftstheorien nach sich. Zum einen hält es dazu an, nicht nur die materiellen Lebensbedingungen zu untersuchen, sondern auch die ideologischen, d.h. die imaginären und symbolischen Repräsentationen, in denen die Menschen ihre Beziehungen zu sich selbst und zueinander herstellen. Denn Repräsentationen sind nicht bloß ein System von Zeichen und Darstellungen, die die Welt beschreiben, sondern ein Medium, durch das sich Individuen als Subjekte entwerfen und durch das sie historisch-konkret und materiell agieren bzw. interagieren. Und zum anderen hält dieses neue Verständnis von Ideologie in und als Repräsentation dazu an, die mannigfaltigen Weisen ins Auge zu fassen, in der repräsentative Diskurse - zumal im Zeitalter des "important aspect of masscommunication and its new cultural forms" bestimmte Macht- bzw. Herrschaftsbeziehungen aufrechterhalten und fortschreiben.

Freilich gibt es - so die Althusser wendende Pointe von Laclau/Mouffes Gesellschaftstheorie - weder einen einheitlichen, allumfassenden und in sich geschlossenen Diskurs noch eine stabile, unveränderliche Bedeutung dieses Diskurses. "Ob ich nun", schrieb Laclau einmal zur Verbildlichung des Zusammenhangs von Materialität, Diskurs und Bedeutung, "ein kugelförmiges Objekt auf der Straße vor mir her kicke oder mit einem Fußball in einem Match spiele - der physikalische Sachverhalt ist der gleiche, aber seine Bedeutung ist vollkommen unterschiedlich. Denn das Objekt wird nur dadurch zum Fußball, indem es ein System von Beziehungen mit anderen Objekten etabliert, und diese Beziehungen sind keinesfalls durch die bloße Materialität dieser Objekte vorgegeben, sondern sozial konstruiert." Die ideologische Dimension von Diskurs und Repräsentation ist also stets einem sozialen Beziehungsfeld verbunden, das von den unterschiedlichsten Ansichten, von einander widersprechenden Blicken und gegensätzlichen Perspektiven bestimmt ist. Denn letztendlich kann - um im Laclauschen Bild zu bleiben - ein Pappkarton sehr wohl als Fußball gesehen werden und das Dosenkicken in der Seitengasse als Weltmeisterschaftsfinale.

Was diese Bilder in vereinfachter Form zu illustrieren versuchen ist nichts anderes als die "Unmöglichkeit der Festlegung einer ein für allemal gültigen, buchstäblichen Bedeutung", die sich durch das Feld der Differenzen ergibt, die jede soziale Konstruktion von Beziehung immer schon bestimmen. Es ist genau das Fehlen dieser "letzten Buchstäblichkeit", das es verbietet, die gesellschaftlichen Verhältnisse als zwangsläufige Ausdrucksformen eines allumfassenden Gesetzes - sei es ein ökonomisches oder ein politisches - zu betrachten. Die Elemente, aus denen sie sich zusammensetzen, entspringen einem verstreuten Ensemble von Differenzen, die erst in einer spezifischen artikulatorischen Praxis als bedeutende Verhältnisse konstituiert werden. "Wir können deswegen", so Laclau/Mouffe in "Hegemony and Socialist Strategy", "von einer wachsenden Komplexität und Fragmentierung der fortgeschrittenen Industriegesellschaften reden - nicht in dem Sinn, daß sie sub specie aeternitatis komplexer sind als frühere Gesellschaften, sondern daß sie um eine fundamentale Asymmetrie herum konstituiert sind. Diese Asymmetrie besteht zwischen der wachsenden Vermehrung von Differenzen - ein Bedeutungsüberschuß des Sozialen - und den Schwierigkeiten, auf die jeder Diskurs stößt, der versucht, jene Differenzen als Momente einer stabilen artikulatorischen Struktur zu fixieren."

Überschuß und Fixierung

Es ist der symbolische, diskursive Charakter der gesellschaftlichen Verhältnisse, der diese Asymmetrie festlegt und das "Fließen" von Bedeutungen mit sich bringt. Kein einfaches Grundprinzip, das das ganze Feld an Differenzen jemals vollständig fixieren könnte; der Überdeterminierung unterworfen, wird jede "Identität" vielmehr immer schon untergraben bzw. überschritten. "Die Gesellschaft und die sozialen Agenten haben kein Wesen, und ihre Regelmäßigkeiten bestehen lediglich aus den relativen und prekären Formen der Fixierung, die die Errichtung einer bestimmten Ordnung mit sich bringt." Der Bedeutungsüberschuß, der die Gesellschaft und ihre Subjekte bestimmt, verdeutlicht die Notwendigkeit dieser Fixierung. Nur die beständige Festlegung diskursiver "Knotenpunkte" läßt die differentielle Realität gleichsam zur Ruhe kommen und ermöglicht es, sie wenigstens partiell als "eindeutige" zu fixieren. In Laclau/Mouffes Worten: "Die Praxis der Artikulation besteht deshalb in der Konstruktion von Knotenpunkten, die Bedeutung teilweise fixieren. Der partielle Charakter dieser Fixierung geht aus der Offenheit des Sozialen hervor, die ihrerseits wieder ein Resultat der beständigen Überflutung eines jeden Diskurses durch die Unendlichkeit des Feldes der Diskursivität ist."

Hegemonie

Wie aber wird dieses unendliche Feld der Diskursivität nun im konkreten eingeschränkt? Durch welche artikulatorischen Praxen können Knotenpunkte hergestellt werden, die Bedeutung wenigstens teilweise fixieren? Und welche spezifischen Verknotungen sind notwendig, um positive Identitäten zu ermöglichen?

Es ist der - ebenfalls von Gramsci aufgenommene - Begriff der Hegemonie, mit dem Laclau/Mouffe diese Fragen zu beantworten und ihre neue Gesellschaftstheorie zu bündeln versuchen. Von der historischen Erfahrung fortschreitender Fragmentierung und der zunehmenden Unbestimmtheit sozialer Identitäten geprägt, verweist Hegemonie ganz grundsätzlich "auf eine abwesende Totalität sowie auf die verschiedenen Versuche zur Neuzusammensetzung und Reartikulation." Derart beide Pole der gesellschaftlichen Asymmetrie (die Vermehrung von Differenzen und die diskursiven Stabilisierungsversuche) umreißend, wird der Begriff der hegemonialen Formation zum Synonym eines Diskurses, der die soziale Überdeterminierung zurückzudrängen und die Unmöglichkeit einer eindeutigen und beständigen Identität zu überwinden versucht. Als conditio sine qua non dieser "Identität" erscheint die Logik der hegemonialen Formation als eine buchstäbliche Logik der Notwendigkeit: denn sie wirkt "durch Fixierungen, die, genau, weil sie notwendig sind, eine Bedeutung etablieren, die jede Kontingenz eleminiert." Warum aber ist diese Logik eine notwendige? Und wie etabliert sie eine Bedeutung, die jede Zufälligkeit und Ungewißheit eleminiert? Wenn das Soziale - unter der theoretischen Lupe Laclau/Mouffes betrachtet - so wenig ein für allemal (als kapitalistisches, patriarchales, rasistisches etc.) fixiert ist wie das durch eine Vielzahl von (geschlechts-, begehrens-, kultur- oder altersspezifischen) Differenzen durchzogene Subjekt, so braucht es eine spezifische Festsetzung, um überhaupt so etwas wie positive Identität und damit politische Denk- und Handlungsfähigkeit zu schaffen. Gegen das freischwebende Chaos des Sozialen und den elementaren Mangel des Subjekts tritt so eine diskursive Ordnung auf den Plan, die dem "freien Spiel" der Kräfte sozusagen einen Namen gibt und die es bestimmenden Differenzen in ein bedeutungsvolles Beziehungsnetz einbindet. Erst indem sich diese diskursive Ordnung gegenüber vielen möglichen anderen als hegemoniale durchsetzt, wird die Gesellschaft überhaupt zur bürgerlich-kapitalistischen und das Subjekt zum Mann, zur Frau, zum Weißen, zur Andersgläubigen usw., das dem jeweils anderen in einem ganz bestimmten Verhältnis gegenübersteht. Diese für uns selbstverständliche Ordnung von Identitäten ist also nicht natürlicherweise so, sondern Effekt einer hegemonialen Diskursivierung, die sie zur immer schon existierenden und allgemein-menschlichen naturalisiert. In diesem Sinne geht es dem kritischen Blick auf die hegemonialen Formationen unserer Geschichte nicht darum, "

die Ebene oder das Prinzip zu suchen, das die Gesellschaft einigt, sondern zu wissen, inwiefern gewisse diskursive Praxen durch die Errichtung bestimmter Formen von Verhältnissen zwischen Objekten totalisierende Sinneffekte haben. Genau das ist bei den hegemonialen Praxen der Fall."

Herrschaft und Widerstand

Daß "die" Gesellschaft für Laclau/Mouffe nicht als totale und einheitliche, sondern nur als plurale und differenzierte zu fassen ist, bedeutet freilich nicht, daß sie ihre politisch- ökonomische Ordnung bloß als eine Anhäufung zerstreuter Fragmente sehen. Vielmehr gilt ihr kritisches Augenmerk der machtvollen Realität jener hegemonialen Versuche, "das Feld der Diskursivität zu beherrschen und ein Zentrum zu konstruieren." Hegemoniale Versuche, die in den komplexen Prozessen der spätkapitalistischen Umstrukturierung aufzuspüren sind, in jenem Zur-Ware-Werden der sozialen Welt und der ihr einhergehenden kulturellen Uniformisierung, aber auch in jenen vielfältigen Widerstandsformen, die dagegen entwickelt wurden. Gerade weil Laclau/Mouffe die Gesellschaft nicht als totalitäres Ganzes, sondern als antagonistisches Ensemble einander ergänzender und überlagernder, einander aber auch widersprechender Verhältnisse begreifen, können sie auch die vielfältigen Transformationen des politischen Feldes auf neue Weise ins Auge fassen.

Selbstverständlich wird die soziale Realität kapitalistischer Herrschaft und patriarchaler Unterordnung dabei keinesfalls zum Verschwinden gebracht. Doch indem deren Unterdrückungs- und Ausbeutungsformen nicht mehr länger als wesenhafte Gesetze erfaßt werden, sondern als Effekte hegemonialer Diskurse, wird auch der Widerstand gegen diese Formen in neuer Weise denk- und praktizierbar. Denn der Umstand, daß diese hegemonialen Diskurse als beharrlich überdeterminierte, von Differenzen und Antagonismen durchsetzte und damit wesentlich krisenhafte zu begreifen sind, macht die Angreifbarkeit dieser Diskurses offensichtlich. Es ist genau diese Gebrochenheit und Widersprüchlichkeit der von den hegemonialen Diskursen naturalisierten Unterordnungsformen, die immer wieder zum Ausgangspunkt von Kämpfen um ihre Veränderung wurde: Links-emanzipatorischen Kämpfen wie sie die "Neuen Sozialen Bewegungen" von Frauen, von Homosexuellen, von Farbigen, von Umwelt- oder von Friedensgruppen führen, aber auch rechten, neokonservativen und reaktionären Kämpfen, die gerade in den letzten Jahren wieder enormen Aufwind bekommen haben. Denn der differentielle, überdeterminierte Charakter der sozialen Verhältnisse - so Laclau/Mouffes zentrale gesellschaftspolitische Lehre - bringt auch mit sich, daß es tatsächlich keine paradigmatischen Formen gibt, in denen sich Widerstand gleichsam zwangsläufig ausdrücken muß. Auch die Widerstandsprojekte unterliegen jener "Offenheit des Sozialen", die letztlich jeden hegemonialen Ordnungs- bzw. Fixierungsversuch zum willkürlichen und prekären macht. "Die Form, die er (der Widerstand - S.K.) annimmt, wird immer von den zu einem bestimmten Zeitpunkt existierenden Diskursen abhängen und vom Typ des Subjekts, den sie konstruieren. Diese Widerstandsformen können also problemlos mit rechten Anti-status-quo-Diskursen wie mit Diskursen der Linken artikuliert werden; ebenso können sie auch vom herrschenden System absorbiert werden, um sie zu neutralisieren, ja sie können sogar von diesem zum Zweck der eigenen "Modernisierung" gebraucht werden."

Pluralismus und Radikaldemokratie

Nichtsdestoweniger verlangt diese transformative Realität des politischen Feldes nach einem Autonomie wie Differenz respektierenden Pluralismus der Subjekte. In dem von Laclau/Mouffe reformulierten marxistischen Sinne darf Differenz weder (als auszuschließendes Nicht-Ich oder als bedrohliches Anderes) verworfen noch hegemonial (als Multi-Kulti-Chic oder als bloß paraodistisches Spiel mit dem Anderen) vereinnahmt werden, sondern muß in radikaler Weise mit dem vermeintlich "Eigenen" in Beziehung treten. "Das heißt", wie Chantal Mouffe in ihrem kurzen Beitrag über "Staatsbürgerschaft und politische Identität" ausführt, "das "Wir" radikal demokratischer Kräfte wird erzeugt durch Grenzziehung, durch die Benennung eines "Ihr"; es ist kein homogenes "Wir", das auf der Identität seiner Bestandteile basiert. Über das Äquivalenzprinzip entsteht eine Form von Gemeinsamkeit, die verschiedene Arten der Individualität respektiert und Pluralität und Differenzen nicht tilgt." Die Respektierung von Autonomie zielt also auf die Selbstbestimmung einer im doppelten Sinn des Wortes an-erkannten Differenz und den zahlreichen Rechts- und Handlungsansprüchen, die sich daraus ableiten. Dem Recht auf eine selbstbestimmte Identifikation etwa, dem Recht auf partikulare Gemeinschaften und immer wieder veränderbare politische Koalitionen oder auch dem allgemeinen Recht auf Staatsbürgerschaft als "eine Form politischer Identität, die durch die Identifikation mit den politischen Prinzipien einer modernen pluralistischen Demokratie erzeugt wird, d.h. dem Eintreten für die Freiheit und Gleichheit aller." Gerade vor dem Hintergrund der weder essentiell zu fixierenden noch hegemonial zu totalisierenden "Offenheit des Sozialen" erfordert diese Pluralisierung der Subjekte (gerade derjenigen, die bisher aus den klassischen politischen Rahmenwerken ausgeschlossen waren, wie eben Frauen, Homosexuelle, Farbige, MigrantInnen etc.) letztendlich auch die Durchsetzung einer neuen sozialistischen Strategie. "Wenn es heute noch Sinn hat, von Sozialismus zu sprechen", so Chantal Mouffes konsequente Schlußfolgerung, "dann nur als Ausdehnung der demokratischen Revolution auf das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse, als Errichtung einer radikalen, libertären und pluralen Demokratie."

Anerkennung und Kritik

So faszinierend und horizonterweiternd Laclau/Mouffes Kritik an den traditionellen marxistischen Theorien und deren Reformulierung auch ist, so unübersehbar sind die vielen ungelösten Probleme, die ihre Programmatik von Hegemonie und radikaler Demokratie aufwerfen. Da wäre einmal die Problematik ihrer an vielen Stellen sehr formalistischen Denk- und Schreibweise anzuführen. Vor allem von Lacan und Derrida beeinflußt, scheinen mir Laclau/Mouffe auch das schlechte Erbe eines manchmal überaus reduktionistischen Poststrukturalismus und einer zuweilen geradezu esoterischen Psychoanalyse in einen Marxismus hineinzutragen, dessen Stärke und Lebendigkeit doch vor allem in seiner faßbaren Konkretheit bestehen sollte. So wird beispielsweise weder zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praxen unterschieden noch zwischen imaginärer und materiell-konkreter Identitätsfixierung. Das führt nicht nur - wie der britische Laclau/Mouffe-Kritiker Terry Eagleton einmal meinte - zu einer sukzessiven "Inflation des Diskurses", sondern auch zu einer Art von symbolischer "Imperialisierung" der sozialen Welt, die die Differenz zwischen akademischem Denken und materieller Realität zum Verschwinden bringt.

Gerade diese tendenzielle Auslöschung der Theorie-Praxis-Dialektik verschärft freilich auch das Problem des "radikaldemokratischen Gebrauchswerts" der Laclau-Mouffeschen Schriften. "In notably academistic style", bringt Eagleton dieses Problem auf den Punkt, "the contemplative analysis of a practice suddenly reappears as ist very essence." Sicher wird die Gültigkeit des Marxismus in vieler Hinsicht, wie Laclau formuliert, "von seiner Fähigkeit abhängen, andere Diskurse zu unterbrechen, neue Objekte zu konstituieren und einen neuen Bereich von Effekten zu produzieren." Doch vermag diese Diskursanalyse auch die geeigneten Mittel in die Hand geben, um die projektierte "Selbstbestimmung der Sinnproduktion" zu verwirklichen? Oder muß sie, insbesondere angesichts der Hochtechnologisierung und Globalisierung gesellschaftlicher Sinnproduktion (Stichwort: Neue Medien, Global Village, Virtual Reality), zwangsläufig auf der Ebene eines "naiven" Selbst-Entwurfs bleiben? Gilt es hier nicht auch, sich mehr an die alte Rede von der möglichen Aneignung der Produktionsmittel zu erinnern?

Und genau an dieser Stelle wäre dann auch noch die Problematik des Laclau/Mouffeschen Subjektentwurfs anzumerken. Pluralisiert und zugleich in umfassender Weise politisiert scheint dem Laclau/Mouffeschen Subjekt nämlich die ganze Last ihrer formalistisch-reduktionistischen Abstraktheit auf den Schultern zu lasten. Ich stehe nicht an, die von Laclau/Mouffe ins Auge gefaßte Radikaldemokratisierung der Gesellschaft und die in ihr zu verwirklichende Anerkennung von Autonomie wie Differenz theoretisch zu würdigen. Wie die "notwendige neue Beziehung zwischen Universalismus und Partikularismus" (beispielsweise für die Fixierung von Minderheitenrechten auf Selbstbestimmung) praktisch zu verwirklichen ist, bleibt jedoch ebenso ungeklärt wie die Frage nach den konkreten Strategien einer intervenierenden Ent- oder auch Überidentifikation (gegen die traditionelle, nicht die Rationalität, aber die Möglichkeit einer Ordnung versprechende Identifikation mit dem Bestehenden). Was bedeutet es für das von Laclau/Mouffe im übrigen kaum jemals genauer - geschlechts- ethnien- oder altersspezifisch - benannte Subjekt, wenn das Problem der Politik - wie Laclau in "The Making of Political Identities" ausführt - "nicht die Identifikation, sondern die Identifikation und deren notwendiges Scheitern" ist? Welche Konsequenzen hat die zwangsläufige Dialektik von Identität und Nicht-Identität für politischen Widerstand? Und wie ist der vielbeschworene Kampf um die Neuzusammensetzung und Reartikulation des politischen Feldes tatsächlich in die Tat umzusetzen? Offene Fragen, die mir die Fortführung der von Laclau/Mouffe eröffneten Methodik einer kritischen Reformulierung unumgänglich erscheinen lassen, um den von ihnen erhobenen Anspruch auf einen lebendigen, interventionsfähigen und veränderungsbereiten Marxismus tatsächlich realisieren zu können.

Literatur:

Ernesto Laclau, "The Impossibility of Society", in: Canadian Journal of Political and Social Theory, 7, 1 and 2 (1983).

Ernesto Laclau (ed.), The Making of Political Identities, London, New York 1994.

Ernesto Laclau/Chantal Mouffe, "Postmarxism without Apologies, in: New Left Review, Nr. 166 (1987), S. 79-107.

Ernesto Laclau/Chantal Mouffe, Hegemony and Socialist Strategy. Towards a radical democratic politics, London, New York 1985.

Chantal Mouffe, Gramsci and Marxist Theory, London, New York 1979.

Chantal Mouffe, The Return of the Political, London, New York 1993.

Auf deutsch sind u.a. folgende Schriften erschienen:

Chantal Mouffe, "Staatsbürgerschaft und politische Identität", übersetzt von Johanna Schaffer, in: Kunstverein München (Hrsg.), Die Arena des Privaten, München 1993, S. 62-65.

Chantal Mouffe, "Hegemonie und neue politische Subjekte", in: kultuRRevolution nr. 17/18 (Mai 1988), S. 37-41.

Chantal Mouffe, "Arbeiterklasse, Hegemonie und Sozialismus", in: Das Argument-Sonderband 78 (1982), S. 23-39.

Ernesto Laclau, "Diskurs, Hegemonie und Politik. Betrachtungen über die Krise des Marxismus, in: Das Argument-Sonderband 78 (1982), S. 6-22.

Ernesto Laclau, "Die Politik als Konstruktion des Undenkbaren", in: kultuRRevolution nr. 17/18 (Mai 1988), S. 54-57.

Ernesto Laclau, Politik und Ideologie im Marxismus, Berlin 1981.

Ernesto Laclau/Chantal Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien 1991.